Stuttgart. „Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge setzt den Fokus auf ein Fahrzeug, ein Ausstellungsexponat oder ein Element von Architektur und Gestaltung. Sie wirft den Spot auf Details, erzählt Hintergründiges, Spannendes, Erstaunliches. Denn 160 Fahrzeuge und 1.500 Exponate im Mercedes-Benz Museum sind ein reichhaltiger Fundus für Geschichten. Diesmal im Blick: der Mercedes-Benz 300 (W 189) des ersten deutschen Bundeskanzlers Konrad Adenauer.
Nr. 1/2021: Mercedes-Benz 300 (W 189) von Konrad Adenauer
Staatsmännisch: schwarzer Lack und dezente Chromzier, dazu viel Platz und weiche Polster im Fond. Die hintere Tür des Mercedes-Benz 300 fällt satt ins Schloss, so empfängt der letzte Dienstwagen den ersten deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer. Ob vielleicht auch Staatsgäste wie John F. Kennedy schon auf dieser Sitzbank Platz genommen haben? Zeitlich würde es passen. Denn als der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vom 23. bis 26. Juni 1963 die Bundesrepublik Deutschland besucht, ist genau dieses Fahrzeug der persönliche Dienstwagen seines Gastgebers Adenauer. Offizielle Paraden absolvieren beide Politiker stehend in einem Mercedes-Benz 300 Landaulet – zum Beispiel in Köln. Doch die Limousine dürfte ebenfalls zur Hand gewesen sein. Heute ist sie im Mercedes-Benz Museum zu sehen, im Raum Collection 4: Galerie der Namen.
Arbeitsatmosphäre: Wie fühlt es sich im deutschen Wahljahr 2021 wohl an, auf der Rückbank Platz zu nehmen, die einst zum Machtzentrum der jungen Bundesrepublik gehört hat? Serienmäßige Details des Repräsentationsfahrzeugs wie Holzverkleidungen bezeugen heute noch die Positionierung des Mercedes-Benz 300 als Luxusfahrzeug. Doch Adenauers Platz im Fond auf der rechten Fahrzeugseite strahlt auch eine echte Arbeitsatmosphäre aus: Hinter der Trennwand mit elektrisch versenkbarer Scheibe ist ein kleiner Klapptisch montiert, etwa für das Aktenstudium und Durcharbeiten der Postmappe. Ein Rollo kann per Seilzug vor die Heckscheibe gezogen werden und bietet Schutz vor Sonneneinstrahlung. Denn eine Klimaanlage hat der Kanzlerwagen noch nicht. Jedoch ist über dem Platz des Regierungschefs ein dreiflügeliger Ventilator montiert und sorgt für erfrischende Luftbewegung. Topmodern ist die Kommunikationstechnik der Limousine aus dem Jahr 1959: Im Handschuhfach verbirgt sich die frühe Version eines Autotelefons.
Sicherheit: Ebenfalls auf dem damaligen Stand der Technik sind die statischen Dreipunkt-Sicherheitsgurte im Fond. Mercedes-Benz bietet sie seit Ende 1958 als Sonderausstattung an – der wenig später gebaute Dienstwagen des Kanzlers ist damit ausgerüstet. Der Passagier ist vom System der passiven Sicherheit offensichtlich überzeugt: Als Konrad Adenauer nach seiner Kanzlerschaft 1965 während einer Eisenbahnreise in einen Unfall verwickelt wird, mahnt er kritisch an, die Bahn solle über den Einbau von Sicherheitsgurten nachdenken.
Geschichtszeugnis: Das Fahrzeug im Mercedes-Benz Museum ist der letzte Dienstwagen des ersten Bundeskanzlers. Mercedes-Benz liefert ihn im Januar 1959 an den Staatsfuhrpark aus. Am Ende seiner Kanzlerschaft im Jahr 1963 erwirbt Adenauer den Mercedes-Benz 300 dann von der Bundesrepublik und nutzt ihn fortan bis zu seinem Tod im Jahr 1967 als Privatperson. Deshalb trägt das Exponat des Mercedes-Benz Museums auch nicht das damals für den Wagen des Bundeskanzlers vorgesehene Kennzeichen 0-002, sondern eine authentische private Zulassung. Als Pensionär lässt sich Adenauer in der Staatslimousine weiterhin chauffieren. Der Fahrer ist unverzichtbar, denn der erste deutsche Bundeskanzler besitzt keinen Führerschein.
Technikbegeisterung: Die Limousine im Mercedes-Benz Museum ist der seit 1957 produzierten Baureihe W 189 zugeordnet. Diese ist in Technik und Stilistik gegenüber dem ersten Mercedes-Benz 300 aus dem Jahr 1951 (W 186) deutlich weiterentwickelt. Unter anderem hat der Sechszylindermotor nun eine Saugrohreinspritzung statt eines Vergasers. Damit steigt die Leistung von 92 kW (125 PS) auf 118 kW (160 PS) und die Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h auf 165 km/h. Dem Kanzler dürfte die Leistungssteigerung gefallen haben. Denn Adenauer genießt es, in hohem Tempo chauffiert zu werden. Überliefert ist seine häufige Ansage im rheinischen Dialekt an seinen Fahrer: „Jeben Se Jas!“
Staatslimousine: Am 15. September 1949 wählt der Deutsche Bundestag den CDU-Politiker Konrad Adenauer zum ersten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Zwei Jahre später hat Adenauer dann selbst die Wahl: Auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main vom 19. bis 29. April 1951 feiert das neue Repräsentationsfahrzeug Mercedes-Benz 300 (W 186) seine viel beachtete Premiere. Der Regierungschef besucht die Messe und entscheidet sich spontan für das Fahrzeug der Stuttgarter Marke als neuen Dienstwagen. Übergeben wird die Limousine am 8. Dezember 1951 im Palais Schaumburg in Bonn, dem damaligen Sitz des Bundeskanzleramts. Auch der erste Bundespräsident Theodor Heuss nutzt einen Mercedes-Benz 300 als Dienstwagen. Bei offiziellen Anlässen tragen die Fahrzeuge Stander im Format 30 x 30 Zentimeter auf einem Vorderkotflügel. Die Stander von Bundeskanzler (Bundesadler auf schwarz-rot-goldenem Grund) und Bundespräsident (Bundesadler auf goldenem Grund im roten Rahmen) zeigt das Mercedes-Benz Museum in einer Vitrine des zeitgeschichtlichen Rundgangs im Raum Mythos 4: Wunderjahre – Form und Vielfalt, 1945 bis 1960. Während Adenauers erster Mercedes-Benz 300 Dienstwagen im Jahr 1951 über zwei Standerhalterungen verfügt, trägt das im Museum gezeigte Fahrzeug von 1959 nur eine Halterung vorn auf dem rechten Kotflügel.
Kontinuität: Mit dem Slogan „Keine Experimente“ ziehen Adenauer und die CDU in den 1950er-Jahren in den Wahlkampf. Das Motto scheint dem Kanzler aber auch für seine Dienstwagen zu gelten: Insgesamt sechs verschiedene „300er“ der Baureihe W 186 und der Nachfolgebaureihe W 189 wird er von 1951 bis zum Ende seiner Amtszeit im Oktober 1963 nutzen. Der Typ heißt bald umgangssprachlich „Adenauer-Mercedes“, weil die öffentlichen Auftritte fast untrennbar verbunden sind mit den stets schwarzen Repräsentationsfahrzeugen.
Souveränität: Diese Automobile sind zugleich ein Symbol der jungen aufstrebenden Bundesrepublik. Denn der Bundeskanzler nimmt sie möglichst auch auf Auslandsreisen mit. Da er lange Strecken mit dem Regierungszug zurücklegt, reist der Dienstwagen ebenfalls auf diese Weise. Das gilt beispielsweise für Staatsbesuche in London (Neun-Mächte-Konferenz, 1954), Moskau (1955) und Paris (1962). Auch für Urlaubsreisen nach Cadenabbia am Comer See in Italien steht Adenauer der Dienstwagen zur Verfügung. Der im Mercedes-Benz Museum ausgestellte originale „Adenauer-Mercedes“ spielt sogar eine Rolle in dem Dokumentarfilm „Ferien ohne Urlaub. Zu Besuch in Cadenabbia“ aus dem Jahr 1960 über die Aufenthalte des Kanzlers in der Lombardei.
„Adenauer“ Nr. 1: Ein wichtiges Geschichtszeugnis ist auch der erste Mercedes-Benz 300 des Kanzlers aus dem Jahr 1951. Der Dienstwagen wird 1956 mit mehr als 150.000 Kilometern Laufleistung ausgemustert und verkauft. 1971 gelangt er in die Vereinigten Staaten von Amerika und wird 1989 für das künftige Museum „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn gekauft. Seit der Eröffnung im Jahr 1994 ist Adenauers erster „Adenauer“ dort ein zentrales Exponat – mit dem passenden Kennzeichen 0-002. Für den exzellenten Zustand des Mercedes-Benz 300 sorgt damals die umfassende Restaurierung von Karosserie, Fahrgestell, Motor und Inneneinrichtung mit Unterstützung durch die Experten von Mercedes-Benz Classic.