• Erste Motorluftfahrt der Geschichte am 10. August 1888 mit Daimler „Standuhr“
  • Gottlieb Daimlers Vision einer ganzheitlichen Mobilität zu Lande, zu Wasser und in der Luft
  • Konsequenter Leichtbau und schnelllaufender Verbrennungsmotor
  • Wichtiger Technologieträger auf dem Weg zur modernen Luftfahrt

„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge erzählt Überraschendes, Spannendes, Hintergründiges. Dazu wirft sie den Spot auf Details eines Fahrzeugs, Ausstellungsexponats oder eines Elements von Architektur und Gestaltung. Diesmal im Blick: das Wölfertsche Motor-Luftschiff von 1888.

Nr. 8/2023: Wölfertsches Motor-Luftschiff aus dem Jahr 1888

Filigran: Dünn wirken die Holzleisten des Gestells, in dessen Mitte gut sichtbar der Daimler Einzylindermotor aufragt. Fast schon filigran erscheinen die an diesen Latten befestigten Schnüre. Doch die Konstruktion ist Programm. Schließlich ist diese Gondel Teil eines frühen Flugapparats – und für die Luftfahrtpioniere der 1880er-Jahre hat Leichtbau oberste Priorität. Auch die mit Stoff bespannten Luftschrauben sind deshalb auf ein geringes Gewicht hin optimiert.

Premiere: Vor 135 Jahren gelingt mit dem Wölfertschen Motor-Luftschiff am 10. August 1888 die erste von einem Verbrennungsmotor angetriebene Luftfahrt der Welt. Rund vier Kilometer weit führt die Pionierleistung vom daimlerschen Fabrikhof in Cannstatt Richtung Kornwestheim nach Aldingen (heute Teil der Gemeinde Remseck am Neckar). Der authentische Nachbau der Gondel mit Motor, Luftschrauben und Steuerung ist im Mercedes-Benz Museum zu erleben, im Raum Mythos 1: Pioniere – Die Erfindung des Automobils.

Visionär: Entwickelt wird das Luftschiff von dem Leipziger Buchhändler und studierten Theologen Dr. Friedrich Hermann Wölfert. Gottlieb Daimler ist der perfekte Kooperationspartner Wölferts, um einen Antrieb für dessen seit 1880 entwickelte Luftschiffe zu finden. Überzeugungsarbeit muss der Luftfahrtpionier dabei nicht leisten. Schließlich ist Daimler schon länger davon überzeugt, dass sein gemeinsam mit Wilhelm Maybach konstruierter, schnelllaufender Viertaktverbrennungsmotor eine ganzheitliche Mobilität zu Lande, zu Wasser und in der Luft ermöglichen wird. Bis heute erinnert die dreizackige Form des Mercedes Sterns als Markenzeichen an diese Vision.

Entwicklungslinie: Mit dem Reitwagen (1885) sowie der Motorkutsche und dem Motorboot (beide 1886) setzt Daimler die beiden ersten Punkte des kühnen Plans um. Als er von der Suche Wölferts nach einem Motor für dessen Luftschiff erfährt, bietet er im Spätherbst 1887 seinen Einzylindermotor an, wegen der Form „Standuhr“ genannt. Die vielseitige Maschine erweist sich als optimal passende Lösung.

Drehzahl: Der 1,5 kW (2 PS) starke Motor mit 603 Kubikzentimetern Hubraum ist ohne Gehäuse auf einem stabilen Holzfundament in der Gondel montiert. Seine Komponenten aus schwarz lackiertem Guss und poliertem Messing sind entsprechend gut zu sehen, sie heben sich klar von der Grundkonstruktion der Gondel aus Holz, Schnüren und Textil ab. Der Motor wirkt mit bis zu 720 Umdrehungen je Minute auf eine horizontale und eine vertikale Luftschraube, beide jeweils dreiflügelig ausgeführt und auf einer Welle aus Metallrohr befestigt. Die horizontale Schraube unter der Gondel dient zur Veränderung der Fahrthöhe. Die vertikale Schraube im Heck übernimmt den Vortrieb. Gelenkt wird mit einem vorn montierten Segel.

Vom Uhrwerk zur „Standuhr“: Dass Daimlers stehender Einzylindermotor umgangssprachlich den Namen „Standuhr“ trägt, passt Ende der 1880er-Jahre zur Entwicklungsgeschichte des Wölfertschen Luftschiffs. Denn der technikbegeisterte Buchhändler und sein Entwicklungspartner Georg Baumgarten erproben ab 1880 verschiedene Verfahren für den Antrieb und die Höhensteuerung ihrer Luftschiffe. Unter anderem kommt auch ein Federwerkmotor zum Einsatz, umgangssprachlich wegen seiner Verwendung in Uhren auch „Uhrwerkmotor“ genannt. Später hat Wölfert unter anderem auch Elektromotoren im Blick. Doch das Gesamtgewicht von Motor und Energiespeicher ist zu groß. Erst der schnell laufende Viertaktverbrennungsmotor bringt die gewünschte Kombination aus leichtem Gewicht (84 Kilogramm) und hoher Leistung mit sich.

Technologiepartnerschaft: Um 9 Uhr morgens am 10. August 1888 startet das Luftschiff auf dem Fabrikhof von Daimler in Cannstatt. Am Steuer sitzt nicht Dr. Wölfert selbst. Denn der etwa zwei Meter große Buchhändler wiegt rund 100 Kilogramm. Das wäre zu viel Ballast für das Fluggerät mit seinem mit Wasserstoffgas gefüllten Auftriebskörper, an dem die Gondel angehängt ist. In bester Technologiepartnerschaft springt damals Daimler Mitarbeiter Gotthilf Wirsum ein, der etwa 30 Kilogramm leichter ist als der Erfinder der Flugmaschine. Er steuert das Luftschiff erfolgreich in Richtung Kornwestheim und landet auf dem Aldinger Exerzierplatz – neugierig bestaunt von den dort tätigen Offizieren. Zwei Tage später unternimmt Wirsum eine weitere Fahrt über eine Distanz von rund vier Kilometern.

Erfolgsgeschichte: Die erste Motorluftfahrt vor 135 Jahren ist der Beginn einer erfolgreichen Historie. Sowohl Daimler, Benz & Cie., die 1890 gegründete Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) und nach der Fusion 1926 die damalige Daimler-Benz AG bauen Motoren für Luftschiffe und Flugzeuge. Unter anderem werden Luftschiffe des Grafen Zeppelin von Daimler Motoren angetrieben, vom LZ 1 des Jahres 1900 bis zum LZ 130 von 1938. Dr. Friedrich Hermann Wölfert erlebt diesen Siegeszug der Luftschiffe nicht mehr. 1888 unternimmt er eine dritte Fahrt vom Cannstatter Wasen aus und präsentiert 1889 sein neues, ebenfalls von einem Daimler Motor angetriebenes Luftschiff in Ulm. Mit seinem Luftschiff „Deutschland“ stürzt er 1897 in Berlin ab und kommt dabei ums Leben.

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