Stuttgart. Geschichte muss lebendig und erlebbar sein – dafür stehen die Archive und die Sammlung von Mercedes-Benz Classic mit ihren Dienstleistungen in besonderem Maß. Die Archive sind das Gedächtnis des ältesten Automobilherstellers der Welt und bieten – digital wie vor Ort – wichtige Services für das Unternehmen selbst sowie für Nutzer aus Wissenschaft, Medien und anderen Bereichen. Die Tradition der heutigen Archive reicht 85 Jahre zurück: Am 9. Dezember 1936 veröffentlicht die damalige Daimler-Benz AG ihre Verwaltungsanordnung Nr. 1145. Sie beauftragt den Ingenieur Max Rauck „mit der Sammlung und Sichtung unseres historischen Schrift- und Bildmaterials zwecks Einrichtung und Führung eines historischen Archivs“.
Schon seit vielen Jahren pflegt Mercedes-Benz Classic eines der größten und traditionsreichsten Wirtschaftsarchive Europas. Neben den erheblichen Beständen von klassischen Archivalien haben längst digitale Medien einen hohen Stellenwert. Diese erleichtern etwa über einen schnellen und weltweiten Zugriff die Recherche und machen die Archivbestände für heutige Verwendungen perfekt nutzbar – ob als Textdokumente, Fotos, Filme oder Tondateien. Die digitale Erschließung betreibt die Unternehmensinstitution bereits ein Vierteljahrhundert lang: „Classic M@RS – Das digitale Archiv“ hat vor rund 25 Jahren seine Anfänge genommen und setzt, ständig schritthaltend mit dem Fortschritt in der Informationstechnik, nach wie vor Datenbankmaßstäbe.
Historische Kompetenz für das Unternehmen
Die Archivbestände bilden außerdem eine wichtige Grundlage für die Arbeit des Mercedes-Benz Museums. Denn sie schaffen den Kontext für die Präsentation von Automobilen aus der mehr als 1.100 Fahrzeuge umfassenden Sammlung von Mercedes-Benz Classic und von anderen Exponaten. Unverzichtbar sind die Quellen auch für die historische Kommunikation von Mercedes-Benz Classic und für die Arbeit des Classic Centers: Die Kommunikation nutzt Quellen wie Preislisten, Prospekte, Plakate und Pressemappen, aber auch Vorstandsprotokolle und technische Protokolle, um beispielsweise die Geschichte einer Fahrzeugbaureihe im Zusammenhang mit ihrer Zeit lebendig werden zu lassen. Historische Fotografien, Illustrationen, Artefakte und Filme aus den Archiven dienen ebenso dazu, die faszinierenden Storys in der langen Geschichte des Konzerns strahlen zu lassen. Zu den Produkten dieser multimedialen historischen Arbeit gehört beispielsweise die DVD-Serie „Magische Momente“ zur Motorsportgeschichte von Mercedes-Benz.
Das Classic Center greift auf das Wissen der Archive unter anderem für authentische Restaurierungen und Reparaturen sowie für seine Expertisen zu. Diese belegen die individuelle Geschichte besonders hochwertiger Mercedes-Benz Klassiker. Die Expertisen sind im Markt der automobilen Klassik als Dokumente mit hoher Aussagekraft zu Originalität und Authentizität von Fahrzeugen der Marke mit dem Stern anerkannt. In das Dokument fließen unter anderem Angaben aus den Datenkarten ein, die für fast jedes seit 1946 produzierte Mercedes-Benz Automobil den originalen Auslieferungszustand nachvollziehbar machen. Für Fahrzeuge, die vor dem Zweiten Weltkrieg gebaut worden sind, gibt es entsprechende Informationen in den Kommissionsbüchern.
Geschichte im ständigen Wandel
Auf der Grundlage ihrer Quellen beantworten die Experten jährlich rund 1.600 Anfragen zur Produkt- und Unternehmensgeschichte aus Wissenschaft und Medien sowie weiterer Personenkreise, die an automobiler Klassik interessiert sind. Dabei gibt es immer wieder neue Informationen. Denn 85 Jahre nach der Gründung sind die Archive von Mercedes-Benz Classic ständig in Bewegung.
Dazu trägt die laufende Erschließung der Bestände bei: Im vergangenen Jahr sind beispielsweise signierte Autogrammkarten berühmter Rennfahrer von Rudolf Caracciola und Hermann Lang über Luigi Fagioli und Louis Chiron bis Manfred von Brauchitsch neu verzeichnet worden. Bisher unbekannte Fotografien des 2020 verstorbenen Rennfahrers Sir Stirling Moss und seines Zeitgenossen Juan Manuel Fangio gehören ebenfalls zu den aktuell erschlossenen Archivalien. Im laufenden Jahr 2021 steht wegen der Aufteilung der Daimler AG in die Mercedes-Benz AG und die Daimler Trucks AG die organisatorische Anpassung der Archive an.
Hoher Stellenwert vom Beginn bis heute
Die vom Vorstand des Unternehmens unterzeichnete Anordnung macht vor 85 Jahren den hohen Stellenwert der neuen Einrichtung deutlich: Es sollen „sämtliche Stellen unserer Gesellschaft“ den Archivar beim Aufbau unterstützen, auch indem sie „auf noch vorhandenes Material in ihrem Arbeitsbereich hinweisen und ihm den Zugang hierzu beschaffen“. Für das Datum der Archivgründung gibt es einen wichtigen historischen Anlass. Denn 1936 feiert Mercedes-Benz das 50-jährige Jubiläum der Erfindung des Automobils durch Carl Benz im Jahr 1886. Damals ist die Daimler-Benz AG selbst, 1926 durch die Fusion der Daimler-Motoren-Gesellschaft mit Benz & Cie. entstanden, erst zehn Jahre alt. Das neue Archiv soll dazu beitragen, die Pionierrollen von Carl Benz und Gottlieb Daimler als Automobilerfinder sowie die Entwicklung des Unternehmens und seiner Produkte seit 1886 durch Quellen zu belegen. Die Verantwortung für das Archiv erhält die Abteilung Ausstellungen.
Im Jahr der Archivgründung stellt das Unternehmen auch Weichen für das heutige Mercedes-Benz Museum und die Sammlung von Mercedes-Benz Classic: Die vorhandenen Bestände historischer Fahrzeuge und Motoren werden im Werk Untertürkheim in neu geschaffenen Räumen gesammelt und präsentiert. 1938 erscheint dann der erste „Führer durch das Untertürkheimer Museum der Daimler-Benz AG“. Räumlich sind das jetzige Museum in Stuttgart-Untertürkheim, die Archive im nahen Fellbach und die Depots der Sammlung zwar getrennt. Eine enge Zusammenarbeit verbindet die Einrichtungen.
Eines der bedeutendsten Wirtschaftsarchive Europas
Von der Gründung bis heute entwickelt sich das damalige Mercedes-Benz Archiv zu einem der größten und traditionsreichsten privaten Wirtschaftsarchive Europas. Zu den Beständen in den Bereichen Unternehmens-, Produkt- und Medienarchiv gehören Dokumente aus der Unternehmens- und Produktgeschichte, die rund 17 Kilometer Regalfläche einnehmen. Weitere Archivalien sind in Spezialschränken sowie in Vitrinen untergebracht.
Dazu kommen mehr als 4,5 Millionen Fotos, über 10.000 Filmdokumente und die große Archivbibliothek. Zu den Highlights gehören beispielsweise die erste Automobilfahrerlaubnis der Weltgeschichte und frühe Patentschriften sowie Kommissionsbücher, die bis in die Frühzeit des Unternehmens zurückreichen. Bestände zu herausragenden historischen Persönlichkeiten wie Mercédès Jellinek, Namensgeberin der Marke Mercedes, setzen weitere Glanzlichter.
Die Sammlung von Mercedes-Benz Classic umfasst mehr als 1.100 Fahrzeuge aus der gesamten Unternehmensgeschichte. Zu erleben sind diese Automobile vom Serienpersonenwagen bis zum Rennwagen unter anderem in der Dauerausstellung und in Sonderausstellungen des Mercedes-Benz Museums sowie immer wieder auch im Fahreinsatz bei internationalen Veranstaltungen der automobilen Klassik.
Gesellschaftliche Verantwortung
Aufbau und Betrieb der Archive von Mercedes-Benz Classic sind für das Unternehmen auch gelebte gesellschaftliche Verantwortung. Denn der älteste Automobilhersteller der Welt bewahrt zentrale Dokumente der Mobilitäts-, Industrie- und Sozialgeschichte seit 1886 für zukünftige Generationen auf. Dafür steht auch im Jahr 2011 die Aufnahme des Patents von Carl Benz für sein bahnbrechendes „Fahrzeug mit Gasmotorenbetrieb“ in das Weltdokumentenerbe („Memory of the World“) der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). Hier rangiert das Patent von 1886 direkt neben Zeugnissen wie der Gutenberg-Bibel, dem Nibelungenlied und der Magna Carta.
Erste Schritte hin zum Aufbau eines Archivs gibt es 1933. Damals ordnet Dr. Wilhelm Kissel, Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG seit 1926 und später Vorstandsvorsitzender von 1937 bis 1942, die Sammlung historischen Materials an. Die Werbezentrale in Untertürkheim soll sich um die Lagerung kümmern. Drei Jahre später fällt dann die Entscheidung zur Gründung eines Archivs im eigentlichen Sinn. Als Beispiele dienen der damaligen Daimler-Benz AG auch Firmenarchive anderer renommierter Unternehmen, die so schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Historie dokumentieren – beispielsweise Krupp (seit 1905) und Siemens (seit 1907).
Die Archivbestände werden ab 1936 zunächst im Erdgeschoss des Kasinogebäudes im Werk Untertürkheim gelagert. Nach der vorübergehenden Schließung der Historischen Abteilung während des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1942 kommen die Unterlagen in angemieteten Räumen der Firma J. F. Schreiber in Esslingen unter. Am 30. April 1944 werden Teile des historischen Archivs zum zusätzlichen Schutz vor Kriegseinwirkungen unter anderem in den Erzstollen „Karl“ bei Geislingen/Steige verlagert. Auch Teile der Fahrzeugsammlung werden in Bergwerkstollen untergebracht. Die Rückkehr der Archivbestände nach Untertürkheim erfolgt 1948. Zu dem Zeitpunkt untersteht das Archiv – seit 1. Januar 1947 – wieder der Abteilung Ausstellungen, seine Leitung übernimmt von 1947 bis 1953 Paul Siebertz. Im November 1953 wird das Archiv an das Hauptsekretariat des Unternehmens angegliedert.
Der Weg der Geschichte in die Zukunft
Im Januar 1953 tritt Dr. Friedrich Schildberger als Mitarbeiter des Archivs in die Daimler-Benz AG ein, um dann nach dem Tod von Siebertz im Februar 1954 dessen Leitung zu übernehmen. Der Technikhistoriker Schildberger argumentiert neutral, technikorientiert sowie sachlich und setzt einen wissenschaftlichen Anspruch durch. 1954 wird das Archiv dem Vorstandsbereich Zentralverwaltung unter Dr. Hanns Martin Schleyer unterstellt. 1957 werden schließlich Archiv und Museum organisatorisch zusammengefasst.
Seither entwickeln sich die Archive von Mercedes-Benz Classic kontinuierlich und zusammen mit dem Unternehmen weiter. Unter anderem werden ab 1979 Zeitzeugenbefragungen mit ausgeschiedenen Führungskräften ausgeführt. Zum hundertjährigen Geburtstag des Automobils im Jahr 1986 erscheint die Dokumentation „Die Daimler-Benz AG in den Jahren 1933 bis 1945“. Mit der wissenschaftlichen Untersuchung der eigenen Geschichte während des Nationalsozialismus gehört Daimler-Benz zu einem der ersten Unternehmen, die diesen damals mutigen Schritt in die Öffentlichkeit wagen. 1991 ruft das Mercedes-Benz Archiv die „Stuttgarter Tage zur Automobil- und Unternehmensgeschichte“ ins Leben. Sie fördern die historische Auseinandersetzung in der Automobilindustrie durch einen interdisziplinären Dialog von Wissenschaftlern, Publizisten, Experten, Journalisten und historisch Interessierten.
Die große Konstante in 85 Jahren Beschäftigung mit der Historie von Mercedes-Benz ist die Lebendigkeit der Geschichte. Das machen auch im Jahr 2021 neu erschlossene Archivalien deutlich, die ganz frische Perspektiven auf die Vergangenheit gewähren: beispielsweise ein Fotoalbum des Rennfahrers Hermann Lang, ein Zigarettenetui des Bootsrennfahrers Hermann Weigand mit einer Abbildung des Daimler-Rennboots „Lieselotte“ sowie weitere originale Fahrzeugbroschüren, die nun im Bestand der Archive zur Verfügung stehen.